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Meinung/Sicherheit/RisikoBewertung

Risikobewertung

Die Bewertung von Risiken im LARP scheint oft viel mehr eine Sache von mündlich überlieferten halb-mythologischen Traditionen zu sein, als daß tatsächliche Risikoabschätzungen gemacht werden.

Mittlerweile wird zum Beispiel oft bemängelt, daß an Sicherheitsstandards festgehalten wird, die für ein z.T. völlig überholtes Technologieniveau gelten. Allerdings ist hierbei durchaus zu beachten, daß bei weitem nicht jeder Waffenbauer die technischen Entwicklungen, die im gewerblichen Waffenbau (zumindest nach Aussage der gewerblichen Waffenbauer) gemacht werden, nachvollzieht. Insofern gibt es hier entweder die Möglichkeit, beim kleinsten gemeinsamen Nenner zu bleiben oder die Anforderungen an die Kenntnisse und Markt-Übersicht der Waffenprüfer weit höher zu stecken, als das zur Zeit der Fall ist.

Weitaus gravierender finde ich persönlich die Tatsache, daß man oft den Eindruck gewinnt, daß viele LARPer überhaupt kein Gespür für die Relevanz von Risikofaktoren haben. Oft scheint es so als würden sich Leute im stillen Kämmerlein schlimme Dinge ausmalen, von denen sie glauben, daß sie passieren könnten, und auf diesen Angstphantasien werden dann Sicherheitsrichtlinien aufgebaut. Wie wahrscheinlich diese Unfallszenarien in der Praxis sind, wird dabei oft überhaupt nicht bewertet.

Eines meiner Lieblingsbeispiele für solche Szenarien, ist die Bewertung von Kettenwaffen und Flegeln und dergleichen.

Die häufigste Sicherheitsregel, die man zu dem Thema hört, basiert auf der angenommenen Gefahr, die Kette könne sich um den Hals eines Mitspielers wickeln und diesen würgen. Die Wahrscheinlichkeit für einen solchen Unfall halte ich für absolut vernachlässigbar. Was müßte denn passieren? Die Kette der Kettenwaffe müßte sich um den Hals des Opfers schlingen, zuziehen und in Minuten auch von Helfern nicht gelöst werden können.

Selbst wenn man nicht das Würgen, sondern etwa eine Kehlkopfverletzung als Gefahr annimmt, sollte die Wahrscheinlichkeit dafür meiner Meinung nach nicht höher liegen, als bei jeder anderen Stangenwaffe.

Bestenfalls ist das böse Ende einer Kettenwaffe schwerer beherrschbar, aber das könnte man ja durch weichere Polsterung wettmachen. Die Bedrohung durch die Kette selbst halte ich für ein Gruselmärchen.

Ein weiteres Beispiel sind Pfeilspitzen. Eine Pfeilspitze soll nach gängiger Praxis einen Durchmesser haben, der den einer menschlichen Augenhöhle überschreitet, da sonst erhebliches Risiko einer bleibenden Augenverletzung bestehe.

In dem Zusammenhang ergeben sich ein paar (z.T. ketzerische) Fragen:

  • Wo mißt man das? Ich hatte intuitiv immer verstanden, daß etwa der Abstand der am weitesten vorstehenden Punkte des Stirn- und Wangenknochens gemeint war. Das wären bei mir etwa 5-6 cm. Die eigentliche Augenhöhle, also die Öffnung, an der der Glaskörper des Auges aus dem Knochen ragt, mißt nur etwa 3cm. Das erscheint mir etwas wenig, zumal damit noch der vordere Teil des Glaskörpers freiliegt.
  • Manchmal liest man, der Durchstoßschutz im inneren der Pfeilspitze solle den genannten Mindestradius einhalten, meistens wird von der Auftreffläche ausgegangen. Was ist denn nun "richtig"?
  • Gibt es verläßliche Studien, daß die Pfeile breiterer Bauart solche Verletzungen wirksamer verhindern? Also ist P(Verletzung|Treffer mit breiter Spitze) wirklich signifikant kleiner als P(Verletzung|Treffer mit schmaler Spitze)?
  • Ist die Wahrscheinlichkeit eines Treffers ins Auge unabhängig von der Breite der Spitze? Also ist P(Treffer mit breiter Spitze) wirklich gleich P(Treffer mit schmaler Spitze)?
  • Hat dieser Durchmesser bei schrägem Aufprall überhaupt Relevanz?
  • Wie viele Schüsse mit Pfeilen mit kleinen Spitzen wurden bisher im LARP abgegeben?
  • Wie viele davon haben jemanden in die Nähe des Gesichts getroffen?
  • Wie viele Schüsse mit anderen Pfeilen wurden abgegeben?
  • Wie viele davon haben jemanden in die Nähe des Gesichts getroffen?
  • Ist P(Verletzung|Treffer) im Vergleich zu P(Treffer) noch relevant?
  • Ist die Gesamtgefährdung noch "erheblich"?
  • Meiner Erfahrung nach sind Treffer durch Rückpraller und trudelnde Pfeile und vor allem deren Schäfte weitaus wahrscheinlicher als Treffer ins Auge. Inwieweit ist die Art der Spitzenpolsterung unter dieser Voraussetzung noch ein Faktor?

Ich halte den Augenhöhlen-Durchmesser, zumindest so, wie er meist tradiert wird, für einen relativ willkürlichen Wert, der hergebetet wird, weil es sich gut anhört, der aber ohne sonstige Berücksichtigung von Form oder Material der Pfeilspitze relativ wertlos ist. Damit will ich nicht sagen, daß diese Regel generell falsch sei. Nur daß sie üblicherweise weder präzise formuliert, noch ausreichend begründet wird, was aber verblüffenderweise ihrer Verbreitung nicht entgegensteht.

Gerade in Diskussionen über neue Waffentypen oder andere Kampftechniken liest man teilweise die erstaunlichsten Einschätzungen über Unfallrisiken und Gefahren. Beispiele sind die Diskussionen über FeuerWaffen, Kopfschläge erlauben oder Stiche und Raufen im Kampf.

Es werden die ulkigsten Vorschriften beim Waffenbau tradiert, um irgendwelche "Freak Accidents" mit Wahrscheinlichkeiten im Promillbereich auszuschließen, aber so offensichtliche Verbesserungspotenziale wie "kämpft nicht im Dunklen auf ungeeignetem Terrain" werden oft völlig außer Acht gelassen. Offenbar erscheint es leichter, technische Lösungen für die Waffensicherheit umzusetzen, als grundsätzlich etwas am üblichen Kampfverhalten zu verändern.

Wenn neue Waffenarten (wie etwa FeuerWaffen) aufkommen, werden die entsprechenden Techniken zum Teil mit den gleichen Sicherheitsmaßstäben bewertet, wie die alten. Das ist unter Umständen gar nicht angemessen, da völlig andere technische Vorgänge betroffen sind. Außerdem reagieren manche LARPer schon alleine deshalb ablehnend auf solche Neuerungen, weil sie das Risikopotenzial der neuen Technik additiv zu bestehenden Risiken des Hobbies hinzurechnen, auch wenn die neue Waffe vielleicht im direkten Vergleich ein ähnliches oder gar geringeres Risiko trägt, als bereits Vorhandene. Unter Umständen muß aber beachtet werden, daß der, der eine neuartige Waffe verwendet, dafür eine andere aufgibt, so daß nicht unbedingt immer ein zusätzliches Risiko zu bewerten ist, sondern nur ein anderes.

Ein wichtiger Punkt ist auch die Gefahr der Überkompensation. Wer sich (etwa durch eine Sicherheitsregel) geschützt wähnt, verläßt sich möglicherweise unbewußt auf diesen Schutz, verhält sich unvorsichtiger und macht damit den Vorteil der Schutzmaßnahme zunichte oder geht vielleicht sogar insgesamt mehr Risiko ein, als wenn die Schutzmaßnahme fehlte und er sich auf seine eigene Umsicht verlassen müßte.
SeeGras äußert in Kopfschläge erlauben z.B. den Verdacht, daß das Erlauben von Kopfschlägen tatsächlich zu weniger Treffern führen könnte, da die Leute sich aktiv gegen Kopftreffer verteidigen würden. Heutzutage "weiß" jeder, daß er am Kopf nicht getroffen werden kann, schützt den Kopf damit unbewußt weniger und ein versehentlicher Kopftreffer ist um so gefährlicher.

Insgesamt ergibt sich die Frage, ob die Faktoren, mit denen sich das Gesamtrisiko des Hobbies (und LARP ist riskant, das wird niemand leugnen) verändern würden, wenn man bestimmte Sachen anders machen würde, nicht zum Teil völlig falsch eingeschätzt werden.

Die Frage ist auch, ob Sicherheitsstandards im LARP wirklich immer vom dümmsten anzunehmenden Idioten ausgehen müssen. Der Versuch scheitert schon an der Tatsache, das völlige Idioten viel zu findig sind, um etwas völlig idiotensicher machen zu können. Und solange auf der anderen Seite gewisse Risiken überhaupt nicht beachtet werden, erscheint das ganze Vorhaben etwas inkonsequent.

Ich muß zugeben, daß diese ganze Tirade eher auf einem diffusen Bauchgefühl basiert.

Ich stelle nur manchmal fest, daß ich mir "so ein Schwachsinn!" denke, wenn manche existierende Sicherheitsregel vorgetragen wird. Vielleicht liegt das auch nur an den populären Begründungen. "Mangelnde Kontrollierbarkeit" halte ich für einen durchaus plausibleren Grund, eine Kettenwaffe mindestens in Massenschlachten zu verbieten, als "Du könntest wen erwürgen". "25qcm weicher, planer Schaumstoff von 3 cm Dicke sind nötig, damit eine Pfeilspitze sicher ist" ist vielleicht richtiger als "Projektile müssen einen größeren Radius haben, als eine Augenhöhle".

Auf der anderen Seite beobachte ich manchmal auf Cons Kämpfe, bei denen ich mir nur denke "Wie können die hier und jetzt kämpfen" oder anderes Verhalten, bei dem man sich fragt, warum nicht viel mehr passiert. Verhalten, von dem oft eigentlich leicht einleuchten müßte, daß es das Risiko eines Unfalls auch bei gegebener Waffensicherheit erheblich erhöht. Aber lieber übermüdet und angetrunken im Dunklen am Hang oder im teilgerodeten Fichtenhain wild aufeinander eindreschen, als auf die Endschlacht zu verzichten.

Konkrete Maßnahmen schweben mir momentan noch nicht vor. Manches ist sicherlich auch nicht praktikabel. Der Einwand, daß man nicht erst auf eine signifikante Zahl von Verletzungen warten kann, bevor man eine Sicherheitsmaßnahme für sinnvoll erachtet, ist sicher auch richtig. Aber ich habe die vage Hoffnung, daß die Risikobewertung vielleicht allmählich auf eine sinnvollere, systematischere Basis kommt, wenn man nur diese Debatte mal anfängt. In mancher Forumsdebatte gab es ja z.B. schon durchaus mal ernsthafte Ansätze durch gelernte Materialkundler und Ingenieure (z.B. der Artikel über Pfeilsicherheit oder die FMEA von Section31). Die finde ich schon weitaus ergiebiger als Ammenmärchen und Gerüchteküche.

Ich bin auch nur bedingt dafür, die Sicherheitsregeln für Ausrüstung generell zu lockern oder gar aufzuheben. Aber ich finde schon, daß im Vergleich zur Gerätesicherheit immer noch zu wenig gegen riskantes Verhalten getan wird. Vielleicht liegt hier auch in gewisser Weise eine Alibifunktion vor. Wenn man nur genug für die Gerätesicherheit tut, dann braucht man nicht mehr auf das sichere Verhalten zu achten. Das halte ich für einen gefährlichen Trugschluß. Gefährliche Deppen sind auch mit Waffen, die den üblichen Standards entsprechen gefährlich. Zumal ich auch argwöhne, daß mittelbare Verletzungen im Kampf (z.B. durch stolpern oder fallen) weitaus häufiger sind, als unmittelbarer Waffenschaden.

Eine Sache, die sich in vielen der jüngeren Diskussionen zeigt, ist vermutlich auch die Notwendigkeit einer Abkehr von einem allgemeingültigen Sicherheitsstandard für alle Spiele. Gerade auf Massenveranstaltungen muß man meiner Meinung nach deutlich restriktiver sein, als auf kleinen Cons, wo sich die Leute kennen und leichter vereinbaren können, was geht. Das heißt aber auch, daß man nicht unbedingt jede heilige Kuh verteidigen muß, weil alles auf den kleinsten gemeinsamen Nenner auf Großcons optimiert sein muß.

--RalfHüls, 28.01.2005

Kai Vaupel hat im Auftrag des GfLR e.V. im Jahre 2013 eine Sicherheitsanalyse durchgeführt:

--RalfHüls, 15.06.2014