Ich weiß ehrlich gesagt nicht einmal, wo ich hier anfangen soll.
1. Halten wir doch einmal diese Attribute fest, die angeblich einen Ritter zum Ritter machen (wobei man eigentlich noch zwischen Ideal und Realität unterscheiden müsste). Wir haben da:
- Bildung (war meistens der Fall)
- Treue zum Lehnsherrn
- höfisches Verhalten
- Wahrung des öffentlichen Ansehens („êre“, nicht zu verwechseln mit „ehrenhaftem Kampf“, der sowohl in der höfischen Literatur als auch in der mittelalterlichen Realität höchst kontrovers gesehen wurde)
- Mannhaftigkeit/Männlichkeit, unter anderem häufig definiert über:
-> Fähigkeit, Gewalt auszuüben
-> Bereitschaft, Gewalt auszuüben
- gleichzeitig aber auch eine gewisse Gottesfurcht oder Religiosität (in der Realität bestimmt nicht immer der Fall)
- Bescheidenheit (in der Praxis sicherlich die absolute Ausnahme)
Welche dieser Eigenschaften kann nun per se nicht auch einer Frau zugeschrieben werden? So viel zu „Die Attribute, die einen Ritter zum Ritter machen sind die gleichen, die einen Mann zum Mann machen“. Das Einzige, was einen Mann zum Mann macht, ist ein männliches Geschlechtsorgan. Und selbst die Abwesenheit eines solchen schließt nicht immer aus, dass man einen Mann vor sich hat (Kastration)... Ich könnte die Gender-Debatte noch viel weiter führen, werde ich aber nicht, da es für meine Argumentation nicht relevant ist.
2. Warum soll ein Mann eine Frau retten können/dürfen, umgekehrt aber nicht? Offenbar ist es ein weit verbreitetes Bild, dass Männer stark und Frauen schwach zu sein haben. Aber ganz abgesehen davon, dass dies auch in der Realität längst nicht immer der Fall war, welchen Grund haben wir, dieses Bild im LARP zu reproduzieren? Wo liegt denn das Problem dabei, wenn Männer schwach und Frauen stark sind? Warum darf die Ritterin nicht mal den Prinzen retten? Was hindert uns daran, eine durchaus historisch-mittelalterliche Gesellschaft zu bespielen, in der Frauen- und Männerbilder ein wenig anders codiert sind? Warum sollen adlige oder ministeriale Frauen nicht zumindest die Möglichkeit haben, sich dafür zu entscheiden, in standesgemäßer Kampfausrüstung dem Feind entgegenzutreten? Und warum sollten Männer umgekehrt nicht die Möglichkeit haben, sich ausschließlich dem höfischen Leben zu widmen? Frauen und Männer bekommen Tag für Tag Geschlechterbilder um die Ohren geschlagen, deren Nichtbefolgen in der Regel in irgendeiner Form sanktioniert wird („Mannsweib“ oder „Lusche“). Ich habe kein Interesse daran, diese Engstirnigkeit in mein Hobby mitzunehmen, das oft gerade dafür genutzt wird, aus dem Alltag auszubrechen. Man sollte sich die Frage stellen: Betreiben Menschen LARP primär, um Spaß zu haben, oder um möglichst genau eine historische Gesellschaftsstruktur nachzubilden? (Was nicht heißt, dass ich historische Anlehnung an sich verwerflich finde, im Gegenteil. Ich mag historische Gewandungen und Ständespiel. Aber das sind alles Dinge, die man sich bewusst ausgesucht hat – Das Frau-Sein suchen sich die meisten aber eben nicht aus.)
3. Wer sagt, dass auf die Rettung zwangsläufig ein Kuss oder eine sexuelle Vereinigung folgen muss? Die Dame wollte doch in erster Linie gerettet und nicht geküsst und geheiratet werden, oder? Dass wir oft noch in diesem Schema denken, liegt im Motiv des „Minnedienstes“ aus der höfischen Literatur begründet: Der literarische Ritter leistet der literarischen Dame ungefragt einen Dienst, für den er dann einen „angemessenen“ Lohn einfordert. Seit jeher wird die Frau in der Pflicht gesehen, ihren Körper feilzubieten, wenn man ihr einen Gefallen tut (Man achte mal auf Blumenwerbung am Valentinstag). Wer sagt denn, dass die Dame (unabhängig vom Geschlecht des Ritters) nicht einfach sagt: „Danke, dass du mich gerettet hast. Nun begleite mich an meinen Hof, wo ich dich finanziell entlohnen und dir ein Lehen geben werde!“
4. Warum können Dame und Ritterin nicht auch einfach homosexuell/bisexuell/pansexuell veranlagt sein? Gab es auch damals schon in Wirklichkeit, war aber halt noch "unpopulärer" als heute.
5. Eine Frau kann eine Kriegerin aus einem Naturvolk spielen, auch wenn kriegerische Männer in der Nähe sind. Ebenso wie ein Mann einen Ritter spielen kann, während auch eine Frau in Rüstung anwesend ist. Worin genau besteht der Angriff? Dass es keine explizite Forderung nach der Gleichberechtigung männlicher Amazonen gibt, liegt vermutlich vor allem daran, dass Männer sich nicht rechtfertigen müssen, wenn sie einen Krieger spielen. Abgesehen davon kann ein Mann einfach sagen: "Gut, dann spiel ich eben irgendeinen Krieger aus einem anderen Naturvolk." Die Ritterin kann nicht auf eine andere Kultur ausweichen. Und selbst, wenn sie sich eine eigene ausdenkt - Sobald sie eine Rüstung trägt, ist sie bei ihren männlichen Kollegen unten durch, weil sie zu wissen glauben, dass eine Frau in Rüstung mit ritterlicher Ausbildung undenkbar ist. Beim Naturvolk-Krieger denkt man sich hingegen: "Hm, kenn ich mich nicht mit aus, gibt es bestimmt." Falls du es für eine Amazone per definitionem als gegeben ansiehst, dass sie zusätzlich zu ihrer kriegerischen Tätigkeit auch aktiv und gewaltsam eine matriarchale Gesellschaftsordnung propagiert... Nun, was würde eine solche Amazone tun, wenn sie sich in einer patriarchalisch strukturierten Umgebung wiederfindet? Im Alleingang alle Männer versklaven? Oder wird sie nicht viel eher akzeptieren, dass die Dinge hier offenbar anders laufen, und sich anpassen oder sich zumindest bei der Ausübung ihrer Weltsicht auf ihr eigenes Volk beschränken? Würdest du es nicht als absurd empfinden, wenn auf einer Großcon eine weibliche Kriegerin auf dich zukommt und sagt: "Jetzt mal kurz OT, ich halte es für äußerst fragwürdig, dass du als Mann einen Kämpfer spielst. In der Kultur, die ich bespiele, kommt sowas nicht vor, bitte richte dich danach."
6. Es hängt auch sehr davon ab, in welcher Dosis die Kritik an weiblichem Rittertum vorgebracht wird und ob dies IT oder OT geschieht. Was du hier gerade tust, ist eine OT-Ablehnung, die ich nicht für gerechtfertigt halte, weil du hier Frauen implizit das Recht absprichst, eine bestimmte Rolle einzunehmen, zu deren Darstellung sie durchaus in der Lage wären. Eine IT-Grundsatzdiskussion mag in manchen Fällen hingegen noch einigermaßen spielfördernd sein, wahrscheinlich aber auf Dauer auch eher nervig für die Betreffende. Du kannst natürlich IT den engstirnigen Landadligen spielen, wenn du das unbedingt möchtest. Wenn eine Frau eine Ritterin spielt, will sie aber eben primär Ritterspiel und nicht „Frau-muss-sich-rechtfertigen-Spiel“ betreiben. Dann soll man sie meinetwegen auf etwaige Defizite in ihrer Ritterlichkeit anspielen, wenn man unbedingt Konfliktspiel will.
7. Es stimmt, dass es keine weiblichen Ritter gab, zumindest wenn man eine Knappenausbildung mit Schwertleite per definitionem als wichtig erachtet (was ich ebenfalls tue). Das halte ich aber nicht für einen Grund, es im LARP nicht umzusetzen, außer man will in allen Aspekten historisch sein – Dann wird das Zusammenspiel mit allen anderen aber generell extrem anstrengend. Es gab keine weiblichen Ritter. Aber eben auch kein Chaoslager und keine Orks. Und auch keine spontanen Massenrekrutierungen von landesfremden Abenteurern etc.
8. Wenn eine Frau sich aber aus freien Stücken dazu entschließt, eine schüchterne, wehrlose Dienstmagd zu spielen, weil sie da eben Bock drauf hat... Dann ist das natürlich vollkommen legitim.
- TimoL, 21.08.2016
Kategorie: Diskussion
Zurück zu: Hauptseite